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Solidarität statt Sozialdarwinismus

Friedrich Merz empfiehlt „Trial and error“ in der Corona-Krise – zu schauen, ob Öffnungen bspw. von Schulen und Läden zu einem Anstieg der Infektionen führen und sie dann ggf. wieder rückgängig zu machen, Lindner äußert sich wenig überraschend ähnlich. Teile der AfD gehen noch weiter und fordern, sämtliche Maßnahmen aufzuheben. Argumentiert wird häufig damit, es träfe ja „nur“ Menschen mit Vorerkrankungen und Alte. Darunter dürfe nicht die Mehrheit der Bevölkerung und die Wirtschaft leiden.

Mit Sorge sehe ich, wie diese Debatte, die etwa vom Spiegel („Ja, man darf den wirtschaftlichen Schaden gegen Menschenleben abwägen“) angestoßen worden ist, immer mehr in den Vordergrund tritt. Erfreulich ist, dass immerhin Angela Merkel sich dieser Logik verweigert. Ja, es liegt in der Logik unserer Wirtschaftsordnung, in der der „Dax“ ein führendes, lebendes Wesen ist, die Wirtschaft als vorrangig zu betrachten. Dafür hat sich der Neoliberalismus zu tief in die Köpfe gefressen. Der Sozialdarwinismus liegt unserer Wirtschaftsweise zu Grunde, er wird nur überdeckt von den sozialen Errungenschaften, die gegen die erkämpft worden sind.

Doch wäre nicht gerade jetzt der Anlass, Schluss zu machen mit dieser Denkweise? Die Reaktion auf das Virus ist eine grundsätzlich solidarische, und Viele von uns haben erlebt, dass die physische Distanz wächst, aber gleichzeitig der Wert sozialer Verbundenheit steigt. Und wenn argumentiert wird, Corona verursache vielleicht kurzfristig Tote, langfristig würden in einer Wirtschaftskrise aber vor allem einkommensschwache Bevölkerungsgruppen sterben, so zeigt sich vielmehr: Wirtschaft muss für die Menschen da sein – wenn es andersherum läuft, wenn noch aus den schlimmsten Krisen Kapital geschlagen wird, so muss diese Wirtschaftsordnung dringend vom Kopf auf die Füße gestellt werden.

Was heißt das im Kern, es seien ja „nur“ Menschen mit Vorerkrankungen? Es bedeutet, dass wir die Entscheidung treffen, das Leben dieser Menschen geringer zu werten. Und kennen wir nicht alle jemanden in unserem Umfeld, die oder der damit gemeint ist oder gehören selbst zu dieser Gruppe? Seien es Menschen, die rauchen, die Diabetes oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen haben, die etwas dicker sind, die mit Behinderungen leben oder älter als 75 sind. Ganz abgesehen davon, dass auch Menschen ohne Vorerkrankungen oder jüngere sterben – alle Menschen haben das Recht zu leben und den Anspruch, dass unsere Gesellschaft alles tut, um sie zu schützen, dass sie die bestmögliche Gesundheitsversorgung bekommen. Deshalb verbietet sich für mich die Debatte, was höherrangig ist, Wirtschaft oder Leben.