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Wann dreht sich der Engel der Geschichte wieder um?

„Mehr als zu jeder anderen Zeit stehen wir, die menschlichen Bewohner des Planeten Erde, vor einem Entweder-Oder: Entweder wir reichen einander die Hände – oder wir schaufeln einander Gräber.“ Diese Einsicht steht ganz am Ende des letztes Buches des Soziologen Zygmunt Bauman, „Retrotopia“. Für mich ist es gleichsam Mahnung wie Hoffnung: Mahnung, dass, wenn die Menschheit sich nicht radikal ändert, der Weg in den Abgrund führt. Und Hoffnung, dass es anders kommen könnte, dass wir diejenigen sind, die es in der Hand haben, mit unserem Mut und unseren Ideen, mit der Bereitschaft zur (auch globalen) Kooperation.

Zum ersten Mal bin ich Bauman in „Dialektik der Ordnung“ begegnet, einem Werk über die Bedingungen des Holocaust. Im Prinzip knüpft er darin an die „Dialektik der Aufklärung“ Adornos und Horkheimers an, an deren düsterste Seite: Der Holocaust eben nicht als „Zivilisationsbruch“, sondern als ein Ereignis der Moderne mit Mitteln der Moderne. Zum Ausdruck kommt das in einer Rede von Adolf Hitler, in der er sich von „Radau-Antisemitismus“ abgrenzte und einen „Antisemitismus der Vernunft“ predigte, der sich nicht von Gefühlen leiten lasse, sondern von kalter Rationalität. Die „Erfassung zur Vernichtung“, der fabrikmäßige Massenmord, Auschwitz ist das Ergebnis dieses kalten, rationalen, im schlimmsten Sinne „modernen“ Denkens.

In seinem Buch „Retrotopia“, auf das ich durch die Vorarbeit zu einem Artikel zur Einordnung der rückwärtsgewandten Gesellschaftsvorstellungen einer einstmals linken Bestsellerautorin gestoßen bin, nimmt Bauman nun eine sehr grundlegende Bewertung aktueller gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und Tendenzen vor. Ich habe das Buch jetzt an zwei Tagen mit Gewinn gelesen, kann es nur empfehlen. Ich will versuchen, Euch die Hauptthese kurz darzustellen:

Bauman nutzt sehr bildlich den „Engel der Geschichte“ von Walter Benjamin als Ausgangspunkt: Der Engel dreht in Benjamins Geschichtskonzeption den Trümmern der Vergangenheit das Gesicht zu, während er durch den Sturm des Fortschritts der Zukunft zugetrieben wird. In unserer Zeit hat der Engel der Geschichte sein Gesicht gedreht, er steht jetzt mit dem Rücken zur Vergangenheit, wird vom Sturm, der aus der Zukunft ihm entgegenbläst, immer mehr in Richtung Vergangenheit geweht. „Wir müssen den Engel der Geschichte durch Verführung oder Zwang dazu bringen, sich ein weiteres Mal umzudrehen“, so Bauman.

War gerade das 19. und 20. Jahrhundert – trotz aller Brüche – durch unterschiedliche Formen von Fortschrittsglauben bestimmt, durch die Hoffnung, dass es mit der Gesellschaft und damit mit den Einzelnen voranginge, ist diese Hoffnung jetzt in breiten Teilen der Bevölkerung dem Gefühl einer bedrohlichen Zukunft gewichen. Als eine Ursache macht Bauman die Fragmentierung unserer Gesellschaft aus, wie sie in der Ideologie des Neoliberalismus, des „Es gibt keine Alternative“ von Margret Thatcher zum Ausdruck kommt. Während der Reichtum einiger Weniger ins Unermessliche steigt, darf sich die große Masse keine Hoffnung auf eine bessere Zukunft machen, wird diese Hoffnung geradezu als verwerflich diffamiert. Mir kam da der Satz „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen“, in den Sinn, der prägend für die Regierungen Kohl, Schröder und Merkel war.

In dieser Situation, in der die Zukunft düster, neblig erscheint, die Einzelnen auf sich selbst geworfen sind, besteht der Wunsch, wieder zu einem vermeintlichen Urzustand zurückzukehren, ans „Stammesfeuer der Vergangenheit“, wie es Bauman bezeichnet. Gezeichnet werden „Retrotopien“, also Bilder von Vergangenheiten, die es nie gab, die aber zum Ideal verklärt werden, als alles gut war, die Grenzen noch nicht aufgelöst (sei es die Europas oder die zwischen den Geschlechtern) und wir alle noch eine große Gemeinschaft waren, mit einem klar definierten „Wir“ und einem „Nicht-Wir“.

Diese Retrotopien sind, einfach übersetzt, das, mit dem die Rechtspopulisten in Europa die Herzen und Hirne der Menschen zu erobern angetreten sind: Gegen die Vereinzelung, gegen das „Jeder ist seines Glückes Schmied“ setzen sie eine Gemeinschaft, die klar in schwarz und weiß gezeichnet ist, in der das „Normale“ gegen das „Unnormale“ gesetzt wird, in der jedermann so reden soll, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, und keine „Gedankenpolizei“ gleich jedes Fünkchen von Rassismus, Sexismus, Nationalismus austritt, nur weil mal wieder die Gefühle irgendeiner „Minderheit“ verletzt worden sind.

Diese Sucht nach einem „Retrotopia“ hat reale Ursachen, in der zunehmenden Fragmentierung unserer Gesellschaft, in der Ideologie der Ungleichheit, die alle Poren des Menschlichen durchziehen, die den Menschen gleichermaßen zur Ware wie zum Konsumenten machen in einer zunehmend warenförmigen Welt. Sie ist aber eine „Lösung“ dieser Situation, die letztlich zu den Gräbern führt, in die Vergangenheit, zu neuen Nationalismen, neuen Feindschaften, neuen Kriegen, letztlich ebenso zu einer Zerstörung unserer Lebensgrundlagen, wie sie in anderer Form mit der Unterwerfung aller Lebensgrundlagen unter den Verwertungszwang längst im Gange ist. Retrotopia kann man vielleicht als den unheimlichen Zwilling der gegenwärtigen Weltunordnung beschreiben.

In seinem Epilog, der letztlich ein Zurück zur Utopie andeutet, nimmt Bauman Bezug auf Papst Franziskus und seine Vision einer „gerechten Verteilung der Früchte der Erde und der menschlichen Arbeit“, die eine „moralische Pflicht sei“. Bauman meint, die Arbeit, die wir zu leisten hätten, werde sich als „anstrengend, beschwerlich und problematisch erweisen“, aber sie sei letztlich alternativlos, wenn die Menschheit eine Zukunft haben soll.

Ich lese ja nicht Bücher, um sie 1:1 zu übernehmen, nicht Marx, Bourdieu, Adorno, und auch nicht Bauman (so hat Bauman, gerade wenn es um die historische Genese des Neoliberalismus angeht, aber auch in Einschätzung der Austeritätspolitik Lücken in diesem Buch), aber um Perspektiven für mein eigenes Denken und Handeln und für unser gemeinsames im besten Fall zu gewinnen. Dafür brauchen wir die Gedanken vieler Denker und Wissenschaftler, dafür müssen wir viel Wissen und uns immer hinterfragen und weiterentwickeln. Und an dem Punkt hat mich dieses Buch weitergebracht in zwei Punkten:

Zum einen um zu verstehen, wie diese rückwärtsgewandten Gesellschaftsvorstellungen funktionieren, an welche psychischen und sozialen Bedürfnisse und Affekte sie andocken, zum anderen, was unsere Aufgabe wäre: Dem Bild von Retrotopia unsere Utopie einer anderen Gesellschaft entgegenzusetzen. Es hilft halt auf die Dauer nicht zu sagen: Was Ihr erzählt, ist rückwärtsgewandter Quark (was es ist) oder zu betonen, wie gefährlich die Hinwendung zu nationalistischen, auch rassistischen Stereotypen ist (was es auch ist), dass die Welt viel differenzierter ist (ist sie allemal) oder dass wir doch das besserer Steuerkonzept, die konsistentere Klimapolitik, die besserer Gesundheits- und Rentenkonzeption haben (haben wir!) – wenn es uns nicht gelingt, ein Bild der Zukunft zu zeichnen, das glaubwürdig ist, für das wir selbst brennen und bei dem wir das Gefühl vermitteln, es ist es wert und es macht Spaß, gemeinsam dafür zu streiten.

Konkret auf die Klimakrise bezogen: Ja, die Konzepte liegen auf dem Tisch, ja, die Klimakatastrophe ist am Laufen, und auch Glasgow wird nicht die entscheidende Wende bringen. Aber wir brauchen eben neben der Schilderung der schrecklichen möglichen Zukunft, wenn wir sämtliche Klimaziele verfehlen, auch eine positive Vision, eine konkrete Utopie, wie nicht nur unsere Gesellschaft, wie die Welt aussehen müsste, wenn wir es denn gemeinsam auf Reihe kriegen, die Sache mit der Klimagerechtigkeit, dem sozial-ökologischen Umbau, dem Öko-Sozialismus oder welchen Namen Ihr dem Kind geben wollt.

Nur wir müssen eben die Gewissheit haben und vermitteln, das mit unseren vereinten Kräften dieses Kind auf die Welt kommen, heranwachsen und eine lebenswerte Zukunft haben kann. Wie Oscar Wilde wusste: „Eine Weltkarte, in der Utopia nicht verzeichnet ist, ist keines Blickes wert, denn sie unterschlägt die Küste, an der die Menschheit ewig landen wird.“ Machen wir uns dran, diese Weltkarte zu zeichnen – damit die Retrotopien ihre Anziehungskraft verlieren und der Engel der Geschichte wieder der Vergangenheit hinterherschauen kann.